MEDIZINRECHT

Bundesgerichtshof:„Gelegentlich“ ist nicht gleich „gelegentlich“

Ärzte sind im Rahmen der Aufklärung verpflichtet, den Patienten über die Eintrittswahrscheinlichkeit gewisser Risiken aufzuklären. Unter den Oberlandesgerichten war es dabei streitig, ob sich die Ärzte dabei an den in Beipackzetteln für Medikamente verwendeten Häufigkeitsdefinitionen des Medical Dictionary for Regulatory Activities (MedDRA) zu orientieren hätten. Der Bundesgerichtshof (BGH) hat nun mit seinem aktuellen Urteil vom 29. Januar 2019 - VI ZR 117/18 diese Frage geklärt und sich für die arztfreundlichere Auffassung entschieden.

Sachverhalt

Ein Patient forderte von seinem behandelnden Arzt unter anderem Schadensersatz im Zusammenhang mit der Einbringung einer Knieprothese. Der Patient, der an einer medialen Gonarthrose litt, wurde vom beklagten Arzt endoprothetisch versorgt. Vor der Operation war er unter Verwendung eines Aufklärungsbogens mündlich aufgeklärt worden. In dem Aufklärungsbogen, den der Patient unterschrieb, hieß es unter anderem: „Trotz größter Sorgfalt kann es während oder nach dem Eingriff zu Komplikationen kommen, die u. U. eine sofortige Behandlung erfordern […]. Zu nennen sind: [...] im Laufe der Zeit gelegentlich Lockerung oder extrem selten Bruch der Prothese; ein Austausch der Prothese ist dann erforderlich.“ 

Knapp zwei Jahre nach der Operation stellte sich tatsächlich heraus, dass sich die eingebrachte Prothese gelockert hatte. Sie wurde ausgebaut und schließlich durch ein neues Implantat ersetzt. 

Rechtsauffassung des Patienten 

Der Patient rügte nun einen Aufklärungsfehler. Er legte dar, dass der Eintritt des Risikos einer Prothesenlockerung verharmlost worden sei. Nach Angaben des gerichtlich bestellten Sachverständigen läge die durchschnittliche Wahrscheinlichkeit für das Auftreten einer Lockerung nach der Implantation einer Knie-Prothese im Bereich von bis zu 8,71 %. Dieses Risiko sei mit der Verwendung des Begriffs „gelegentlich“ im Aufklärungsbogen heruntergespielt worden. Der Patient begründete seine Auffassung mit den in Beipackzetteln für Medikamente verwendeten Häufigkeitsdefinitionen des MedDRA. Diese lauten wie folgt: 

–  sehr selten: unter 0,01 Prozent,

–  selten: 0,01 Prozent -0,1 Prozent, 

–  gelegentlich: 0,1 Prozent bis 1 Prozent, 

–  häufig: 1 Prozent bis 10 Prozent, 

–  sehr häufig: über 10 Prozent, 

–  extrem selten, äußerst selten: nicht definiert.

Somit umschreibe der Begriff „gelegentlich“ eine Nebenwirkung, die bei einem bis zu zehn von 1.000 Behandelten (0,1 bis 1 %) auftreten würde. Vorliegend sei das Risiko jedoch mit 8,71 % weit höher.

BGH: MedDRA gilt bei Risikoaufklärung nicht

Dieser Auffassung trat der BGH entgegen. Patienten müssen „im Großen und Ganzen“ über Chancen und Risiken der Behandlung aufgeklärt werden. Dabei ist es nicht erforderlich, dem Patienten genaue oder annähernd genaue Prozentzahlen über die Möglichkeit der Verwirklichung eines Behandlungsrisikos mitzuteilen. Zwar gab der BGH dem Patienten Recht, dass ein Arzt durch die unzutreffende Darstellung der Risikohöhe ein verhältnismäßig häufig auftretendes Operationsrisiko verharmlosen könne. Der Arzt müsse sich aber nicht an die für Medikamente gebräuchlichen Häufigkeitsdefinitionen des MedDRA orientieren.

In erster Linie muss darauf geachtet werden, dass die Aufklärung für den Patienten sprachlich und inhaltlich verständlich ist. Danach umfasste der von dem Arzt verwendete Begriff „gelegentlich“ auch eine Komplikationsrate von 8,71 %. Der BGH griff in diesem Zusammenhang auf den Duden zurück. Werde das Wort „gelegentlich“ − wie hier − nicht im Sinne von „bei passenden Umständen“ gebraucht, so habe es nach allgemeinem Sprachverständnis die Bedeutung von „nicht regelmäßig“. „Gelegentlich“ bezeichne somit in dieser Wortbedeutung eine gewisse Häufigkeit, die größer als „selten“, aber kleiner als „häufig“ ist.Eine konkrete (mathematische) Häufigkeitszahl sei dem Begriff im allgemeinen Sprachgebrauch − jedenfalls außerhalb besonderer Kontexte − nicht zugeordnet. 

Hingegen handelt es sich bei der MedDRA um eine Sammlung standardisierter medizinischer Begriffe, um den internationalen Austausch von Informationen im Zusammenhang mit der Zulassung von Medizinprodukten zu erleichtern. In dieser Sammlung werden unter anderem die Häufigkeiten unerwünschter Arzneimittelwirkungen definiert. Danach gilt eine Häufigkeit von 8,71 % nicht als „gelegentlich“, sondern als „häufig“; als „gelegentlich“ gelten Häufigkeiten von 0,1 bis 1 %. 

Nach richtiger Auffassung des BGH kann aber nicht davon ausgegangen werden, dass sich diese − vom sonstigen allgemeinen Sprachgebrauch abweichenden − Definitionen für die normale Risikoaufklärung zwischen Arzt und Patient allgemein durchgesetzt haben. Der BGH bezog sich in diesem Zusammenhang auch auf eine Studie, welche im Deutschen Ärzteblatt veröffentlicht wurde (vgl. Dtsch Arztebl 2013; 110(40): 669-673). 

Die Erhebung mit dem Titel „Verständnis von Nebenwirkungen im Beipackzettel“, hatte ergeben, dass selbst Pharmazeuten und Ärzte in einem Arzt-Patienten-Gespräch unter „gelegentlich“ in der Regel eine Wahrscheinlichkeit von 10 % verstehen. Vor diesem Hintergrund, so der BGH, könne erst recht nicht davon ausgegangen werden, dass ausgerechnet Laien in diesem Kontext ein an den MedDRA-Kriterien orientiertes Verständnis hätten.

Kompakt:

Ärzte dürfen Eingriffe nicht verharmlosen, in dem sie Risiken herunterspielen. Jedoch müssen sie sich bei der Aufklärung nicht zwangsweise an die definierten Vorgaben der MEdDRA halten. Der BGH gibt ihnen damit einen gewissen Spielraum bei der Darstellung.

Rechtsanwalt Christian Koller
Fachanwalt für Medizinrecht
Kanzlei Tacke Krafft
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