Mutmacher Niederlassung

Viele Ängste vor der Niederlassung sind unbegründet

Bis Mitte der 1990er war für viele, überwiegend männliche Mediziner, ihr Karriereweg bereits vorgezeichnet: Zunächst wurde die Weiterbildung zum Facharzt in einer Klinik abgeschlossen und anschließend aus einer sicheren, aber meistens auch zeitlich sehr beanspruchenden beruflichen Position heraus nach einer geeigneten (Einzel-)Praxis zur Übernahme gesucht oder eine Neuniederlassung durchgeführt.

Die Selbstständigkeit in eigener Praxis war der Normalfall der ärztlichen Tätigkeit im ambulanten Sektor. Die eigene Praxis wurde meistens zwanzig bis dreißig Jahre geführt und dann an Angehörige der nachfolgenden Ärztegeneration veräußert. Heute stellt sich die Situation bekanntlich gänzlich anders dar. Die langfristige Bindung an die eigene Praxis ist in der heutigen Multioptionsgesellschaft augenscheinlich deutlich weniger gefragt. Einerseits gibt es durch die stattgefundene Liberalisierung des Vertragsarztrechts viel mehr Möglichkeiten der Anstellung, z. B. in einem MVZ. Andererseits haben sich die Präferenzen der Ärztinnen und Ärzte stark verändert, eine vermeintlich sichere, flexible und stressfreie Tätigkeit in einem abhängigen Beschäftigungsverhältnis wird der Selbstständigkeit in vielen Fällen vorgezogen.

Sucht man nach den Ursachen für diese Niederlassungsmüdigkeit, stellt man schnell fest, dass sich bei den meisten Medizinern mannigfaltige Falschinformationen und Missinterpretationen verfestigt haben. Häufig wird wohl gedacht, eine ärztliche Existenzgründung wäre mit der Notwendigkeit eines neuen Geschäftsmodells verbunden. Man gewinnt in einigen Gesprächen fast schon den Eindruck, als müsse man vor der Niederlassung einen „Pitch“ vor einer Jury vorstellen, fast so wie bei der „Höhle der Löwen“. Na ja, zugegeben: Ein Zulassungsausschuss mag eine gewisse Ähnlichkeit mit den „Sharks“ haben, wie das Format im amerikanischen Original heißt. Ein Businessplan ist auch vorteilhaft, aber ein innovatives Geschäftsmodell benötigt man natürlich nicht. Die ärztliche Praxis, egal ob Einzelpraxis, BAG oder MVZ, hat sich als Grundlage zur Existenzgründung bestens bewährt.

LASSEN SIE MICH NACHFOLGEND DIE WICHTIGSTEN MYTHEN DER NIEDERLASSUNG KURZ BESCHREIBEN. WENN SIE SO WOLLEN, DIE „FAKE-NEWS“ DER AMBULANTEN VERSORGUNG.

Mythos Nr. 1

FÜR EINEN VERTRAGSARZT BESTEHT EIN HOHES UNTERNEHMERISCHES RISIKO
Tatsächlich liegt die Zahl der Praxispleiten in einem kaum messbaren Bereich. Pro Jahr melden im Normalfall zwischen 40 und 60 Praxen Insolvenz an. Dabei liegen die Ursachen fast ausschließlich im privaten Bereich (wie z. B. überbordende Privatausgaben, mangelnde Planung, Fehlspekulationen etc.). Tatsächlich beträgt die Wahrscheinlichkeit, als Vertragsarzt in die Pleite zu gehen, 0 %. Zum Vergleich: Aktuell schreiben 78 % der Kliniken Verluste, die Wahrscheinlichkeit, dass der  Arbeitgeber Krankenhaus bald Zahlungsschwierigkeiten hat, ist deutlich höher einzuschätzen.

Mythos Nr. 2

EIN NIEDERGELASSENER ARZT MUSS DER GEBORENE UNTERNEHMER SEIN
Als Arzt muss man Fachmann auf seinem medizinischen Fachgebiet sein, für „alles andere“ gibt es versierte Experten, die den Mediziner in sämtlichen unternehmerischen Belangen unterstützen können: Berater sämtlicher Couleur unterstützen heute in vielfältiger Weise, von der Niederlassungsplanung über die Abrechnungsoptimierung bis zur Personalsuche. Natürlich ist es von Vorteil, sich selbst in Managementaufgaben einzuarbeiten, aber das kann durchaus auch Spaß machen. 

Mythos Nr. 3

VERTRAGSÄRZTLICHE NIEDERLASSUNG UND FAMILIE PASSEN NICHT ZUSAMMEN
Nach meiner Erfahrung ist fast immer genau das Gegenteil der Fall: Durch Vertretungs-, Anstellungs- und Kooperationsmöglichkeiten gibt es heute vergleichsweise flexible Möglichkeiten, Familie und Job zu verbinden. Dabei ganz wichtig: Als eigener Chef oder Chefin können Sie Ihr Arbeitsumfeld nach Ihren familiären Prioritäten ausrichten. Das klappt natürlich nicht immer zu 100 %, aber ein Arbeitgeber liest Ihnen auch nicht jeden Wunsch von den Lippen ab. Organisation ist natürlich alles, aber die Regeln geben Sie selbst vor.

Mythos Nr. 4

ALS VERTRAGSARZT ARBEITET MAN DEUTLICH MEHR ALS IN DER KLINIK
Die durchschnittliche Arbeitszeit eines Vertragsarztes beträgt pro Woche ca. 50 Stunden inkl. der „Verwaltung“. Wie lange Sie in der Klinik arbeiten, wissen Sie selbst am besten. Vergessen Sie beim Vergleich auch nicht Bereitschaftsdienste, Nachtwachen und Wochenenddienste. Und natürlich nicht die Urlaubszeiten. Summa summarum haben hier häufig die Niedergelassenen die geringeren Arbeitszeiten.

Mythos Nr. 5

FÜR EINE EXISTENZGRÜNDUNG BENÖTIGT MAN EIGENKAPITAL ODER SICHERHEITEN
Fast alle Praxisfinanzierungen werden von den Banken mit 100 % Fremdkapital ohne Sicherheiten genehmigt, sofern der Kaufpreis in einem Zeitraum von ca. 10 Jahren zurückgeführt werden kann. In der Regel wollen die Banken lediglich eine sog. Abtretung der KV-Einnahmen und eine Risiko-Lebensversicherung. Diese Großzügigkeit kommt nicht von ungefähr. Banken wissen natürlich ganz genau, dass man als Vertragsarzt im Normalfall weit überdurchschnittlich gut verdient, kaum unternehmerisches Risiko hat und im Laufe seines Lebens einiges an Geld anzulegen hat.

Mythos Nr. 6

ALS VERTRAGSARZT NAGT MAN AM HUNGERTUCH
Natürlich, niemand hängt gerne sein Einkommen an die Glocke. Insbesondere dann, wenn es Gesundheitspolitiker oder Kassenvertreter auf die Idee bringen könnte, bei der nächsten Honorarrunde auf die Bremse treten zu wollen. Dann holen die Standesvertreter lieber nochmals das Märchen von den drohenden Praxispleiten raus. Bei einem objektiven Einkommensvergleich zwischen den Karrierealternativen Anstellung und Niederlassung zeigt sich regelmäßig, dass die Entscheidung für die Niederlassung bezogen auf das Lebenseinkommen eines Arztes mit einem erheblichen ökonomischen Vorteil verbunden ist. Vergleicht man das (restliche) Lebenseinkommen, zwischen einem angestellten und einem freiberuflich tätigen Rheumatologen (35 Jahre alt, ca. 30 Jahre ex ante Erwerbstätigkeit) lässt sich im Regelfall ungefähr eine Verdopplung des finanziellen Erfolges vorhersagen. Dieses Finanzplus besteht einerseits aus dem Netto-Einkommen und andererseits aus den Einzahlungen in das ärztliche Versorgungswerk. In absoluten Zahlen landet man hier häufig bei Beträgen im Bereich von etwa 2,0 Mio. €. Oder umgerechnet in Arbeitsjahre: Mit der Alternative Niederlassung ist man häufig ca. 15 Jahre früher auf dem finanziellen Status, den man bei Beibehaltung des Angestelltenverhältnisses erst mit Renteneintritt besitzt.

Mythos Nr. 7

PRAXEN IN ATTRAKTIVEN GEBIETEN SIND UNBEZAHLBAR
Ungeachtet von verschiedenen Bewertungsmethoden, mit denen man den Wert einer Praxis bestimmen kann, gibt es auch bei Arztpraxen einen Markt, auf dem Angebot und Nachfrage herrscht. Aufgrund der demografischen Entwicklung wird das Angebot in den nächsten Jahren sicherlich zunehmen, das bedeutet bei konstanter Nachfrage sinkende Preise. Für ärztliche Existenzgründer werden sich die Rahmenbedingungen weiter verbessern. Ungeachtet dessen, sollte man natürlich jeden aufgerufenen Kaufpreis kritisch hinterfragen und auf die Werthaltigkeit prüfen.

Fazit

Es gibt bei objektiver Betrachtung wohl keine einzige Wirtschaftsbranche, in der die Rahmenbedingen für die Selbstständigkeit und die damit verbundene Existenzgründung so vielversprechend sind, wie im ambulanten Sektor.  Über die sogenannte originäre Nachfrage nach der angebotenen Dienstleistung, also der Frage, ob genügend Patienten in die Praxis kommen werden, muss man sich wohl kaum Sorgen machen. Ansonsten muss man kein kreativer Kopf wie Elon Musk oder Jeff Bezos sein, um seine eigene Praxis erfolgreich zu führen. Es genügt, wenn man es mit der Investoren-Legende Warren Buffet hält: Man muss in seinem Leben nur wenige Dinge richtig machen, solange man nicht zu viele Dinge falsch macht.


Prof. Dr. Wolfgang Merk
Diplom Betriebswirt (BA), Diplom-Ökonom
Sachverständigeninstitut im Gesundheitswesen
Hirschstraße 9
89073 Ulm