INTERVIEW MIT PROF. DR. JÜRGEN WASEM

Auswirkungen von COVID-19 auf die finanzielle Situation der GKV: Ein Ausblick auf 2022

Prof. Dr. rer. pol. Jürgen Wasem

Prof. Dr. rer. pol. Jürgen Wasem

Zum Auftakt der virtuellen BDRh-Jahrestagung referierte Gesundheitsökonom Prof. Dr. rer. pol. Jürgen Wasem, Universität Duisburg-Essen, über die finanzielle Lage der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) im Zuge der COVID-19-Pandemie und gab eine düstere Prognose zu Kostendämpfungsmaßnahmen nach der Bundestagswahl. Zu seiner Einschätzung befragten wir den Experten für Medizinmanagement in einem Gespräch im Anschluss an den Kongress.  

Herr Prof. Wasem, welche finanziellen Effekte von COVID-19 erwarten Sie für die GKV?

COVID-19 hat die Einnahmen der GKV im Jahr 2020 wegen des Lockdowns deutlich weniger stark steigen lassen als erwartet. Der ausgabenseitige Effekt war demgegenüber begrenzt, da etwa die Rettungsschirme weit überwiegend aus Steuermitteln finanziert wurden. Allerdings war die Finanzlage schon unmittelbar vor der Pandemie durch die ausgabenträchtigen Reformen sowohl unter Gesundheitsminister Gröhe in der vergangenen Wahlperiode als auch unter Herrn Spahn gekennzeichnet. 

Für dieses Jahr hat die Regierungskoalition die Situation dadurch gemeistert, dass sie – wie schon im letzten Jahr – den Bundeszuschuss an die GKV heraufgesetzt hat. Zudem hat der Gesetzgeber Kassen mit überproportionalen Rücklagen verpflichtet, diese an den Gesundheitsfonds abzugeben, von wo sie über den morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich an alle Krankenkassen zur Deckung der laufenden Ausgaben zurückfließen. 

Befürchten Sie aufgrund des derzeitigen Finanzszenarios für 2022 finanzielle Einsparungen?

Was im Jahr 2022 in der GKV finanziell passiert, hängt weitgehend von politischen Entscheidungen nach der Bundestagswahl ab. Das strukturelle, basiswirksame Defizit dürfte irgendwo knapp unter 20 Mrd. Euro liegen. Mitte Mai haben sich offensichtlich Finanz- und Gesundheitsminister geeinigt, den Bundeszuschuss in 2022 um 7 Mrd. Euro zu erhöhen. Da bleibt noch ein hohes Defizit ungedeckt. Außerdem ist die zentrale Frage, ob die Maßnahme einmalig oder dauerhaft ist, da das Defizit ja basiswirksam, das heißt auf Dauer wirksam ist. 

Wenn die Politik nicht entweder den Bundeszuschuss erhöht oder die Beitragssätze steigen lässt, wird sie mit Einsparungen reagieren müssen.

Welche Finanzierungsalternativen hat die Politik speziell auf Seiten der Leistungserbringer?

Nun, wir haben ja eine jahrzehntelange Erfahrung mit Kostendämpfungspolitik, auch wenn in den letzten Jahren dazu wegen der gut laufenden Konjunktur keine Veranlassung bestand. Kurzfristig kann die Politik vor allem Preiserhöhungen verbieten und Budgets einfrieren, wie sie es zuletzt vor genau 10 Jahren gemacht hat. 

Längerfristig sind es natürlich vor allem strukturelle Veränderungen und Kürzungen beim Leistungskatalog, die zwar auf den ersten Blick die Versicherten treffen, aber immer auch Einkommensmöglichkeiten für Krankenhäuser, Ärzte oder andere Leistungserbringer bedeuten.

Erwarten Sie durch eine neue Regierung eine Vereinheitlichung des KV-Systems?

Das hängt natürlich vom Ergebnis der Bundestagswahl ab. Bei SPD, Linke und Bündnis 90/Grüne gibt es ja entsprechende politische Forderungen unter der Überschrift „Bürgerversicherung“. Wobei die Bundestagsfraktion der Grünen sich im März dafür ausgesprochen hat, stattdessen die Privatversicherten in den Risikostrukturausgleich der GKV einzubeziehen. CDU/CSU und FDP stehen einer Vereinheitlichung des Krankenversicherungssystems ablehnend gegenüber. Es ist schwer abzusehen, wer sich da letztlich politisch durchsetzen wird.

Herr Prof. Wasem, haben Sie vielen Dank für das Gespräch!